Effektiver Altruismus: ArtikelMarch 02, 202300:06:134.29 MB

500 Millionen, doch kein Einziger mehr

von Jai

von Jai

__________________________

Ihre Namen werden wir nie kennen.

Das erste Opfer hatte nicht erfasst werden können, denn damals gab es noch keine Schriftsprache, in der man es aufzeichnen konnte. Die Opfer waren jemandes Töchter oder Söhne, ein Freund oder eine Freundin. Sie wurden von den Menschen in ihrem Umfeld geliebt. Und sie hatten Schmerzen, ihre Haut war von Ausschlägen bedeckt, sie waren verwirrt, verängstigt, wussten nicht, wie ihnen geschah oder was sie dagegen tun konnten — sie waren die Opfer eines zornigen, unmenschlichen Gottes. Es gab nichts, was man tun konnte — die Menschheit war noch nicht stark genug, noch nicht sensibilisiert genug, nicht sachkundig genug, um ein Ungeheuer zu bekämpfen, das man nicht sehen konnte.

Im Alten Ägypten griff es gleichermaßen Sklaven wie Pharaonen an. In Rom dezimierte es mit Leichtigkeit ganze Armeen. Es tötete in Syrien. Es tötete in Moskau. In Indien gab es fünf Millionen Tote. In Europa tötete es im 18. Jahrhundert pro Tag eintausend Menschen. Es raffte über fünfzig Millionen amerikanische Ureinwohner dahin. Vom Peloponnesischen Krieg bis zum Amerikanischen Bürgerkrieg fielen ihm mehr Soldaten und Angehörige der Zivilbevölkerung zum Opfer als jeder Waffe, jedem Soldaten, jeder Armee. (Was die törichtesten und armseligsten Seelen nicht davon abhielt, den Dämon als Waffe gegen ihre Feinde einsetzen zu wollen.)

Kulturen entstanden und gingen unter, und das Ungeheuer blieb. Imperien stiegen empor und fielen, und es gedieh. Ideologien wuchsen und schwanden, doch es kümmerte sich nicht darum. Töten. Verkrüppeln. Ausbreiten. Ein uralter, zorniger Gott, der sich den Blicken entzog, nicht bekämpft werden konnte, dem man sich nicht entgegenstellen, den man nicht verstehen konnte. Nicht der einzige seiner Art, doch der verheerendste.

Lange Zeit gab es keine Hoffnung – nur das schmerzliche, dumpfe Durchhaltevermögen der Überlebenden.

In China begann die Menschheit im 10. Jahrhundert zurückzuschlagen.

Man hatte beobachtet, dass diejenigen, die den Fluch des zornigen Gottes überlebt hatten, nicht noch einmal davon getroffen wurden: Sie hatten einen Teil dieser Macht in sich aufgenommen und waren so davor geschützt. Nicht nur das, sondern diese Macht konnte auch weitergegeben werden, indem man ein Überbleibsel der Wunden verzehrte. Das war der Preis, denn man konnte die Macht des Gottes nicht nehmen, ohne sie erst besiegt zu haben — doch das war ein kleinerer Preis, zu den Bedingungen der Menschheit.

Bis zum 16. Jahrhundert hatte sich die Technik bis nach Indien verbreitet, dann über ganz Asien, das Osmanische Reich und im 18. Jahrhundert auch in Europa. Im Jahr 1796 entdeckte Edward Jenner eine wirkungsvollere Methode.

Eine Vorstellung begann sich durchzusetzen: Vielleicht konnte der uralte Gott getötet werden.

Aus dem Raunen wurde eine Stimme; aus der Stimme ein Rufen; aus dem Rufen ein Schlachtschrei, der durch die Dörfer, Städte und Nationen fegte. Gemeinsam fing die Menschheit an, die schützende Kraft über den gesamten Globus zu verbreiten, und es wurden Meisterinnen und Meister der Kunst entsandt, um ganze Bevölkerungsgruppen zu schützen. Menschen, die einst bitter miteinander verfeindet waren, taten sich für eine gemeinsame Sache zu diesem einen Kampf zusammen. Regierungen ordneten an, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger schützen müssten, denn gäbe man dem alten Feind ein einziges Leben, würde das Millionen andere in Gefahr bringen.

Und so trieb die Menschheit seinen Feind Zoll um Zoll zurück. Weniger Freunde weinten umeinander; weniger Nachbarn trugen bleibende Schäden davon; weniger Eltern mussten ihre Kinder begraben.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Menschheit den Feind zum ersten Mal aus ganzen Regionen der Welt verbannt. Die Menschheit strauchelte oftmals in ihren Bemühungen, doch es gab stets einzelne Menschen, die nicht aufgaben, die für den Traum einer Welt kämpften, in der kein Kind und kein geliebter Mensch jemals wieder den Dämon fürchten müsste. Wiktor Schdanow, der die Menschheit aufrief, sich in einem letzten Aufbäumen gegen den Dämon zu vereinen; der großartige Taktiker Karel Raška, der eine Strategie zur Ausrottung des Feindes entwickelte oder Donald Henderson, der die Bemühungen während dieser letzten Tage leitete.

Der Feind wurde schwächer. Aus Millionen wurden Tausende, aus Tausenden wurden Dutzende. Und als der Feind dann zuschlug, traten zig Menschen nach vorn, um ihm zu trotzen und alle zu schützen, die er gefährden könnte.

Der letzte Angriff des Feindes in freier Wildbahn richtete sich 1977 gegen Ali Maow Maalin. Noch Monate später durchkämmten engagierte Menschen die umgebenden Gebiete auf der Suche nach den letzten, verzweifelten Verstecken, an denen der Feind noch verblieben sein könnte.

Sie fanden keins.

Vor fünfunddreißig Jahren, am 9. Dezember 1979, erklärte die Menschheit den Sieg.

Dieses eine Übel, das Grauen aus den hintersten Winkeln der Erinnerung, das Ungeheuer, das 500 Millionen Menschen aus dem Leben gerissen hatte, war vernichtet.

Du bist Teil der Spezies, die das geschafft hat. Vergiss nie, wozu wir fähig sind, wenn wir uns zusammentun und den Dingen den Kampf ansagen, die die Welt kaputt machen.

Herzlichen Glückwunsch zum Tag der Ausrottung der Pocken.

Dieser Text ist ursprünglich hier erschienen. Der Text ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 International License.