Effektiver Altruismus: ArtikelMay 02, 202300:30:2620.94 MB

Longtermism: eine Einführung

von Fin Moorhouse

Dieser Text gibt einen Überblick über die Überlegungen, die hinter der neuen Denkweise des Longtermism stecken. Es handelt sich um die Übersetzung eines Textes von Fin Moorhouse, der für das Future of Humanity Institute arbeitet.

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Starten wir mit einem Gedankenexperiment: 

Stell Dir vor, jemand vergräbt Glasscherben in einem Wald. Im ersten Szenario tritt ein Kind fünf Jahre später darauf und verletzt sich. Im zweiten tritt ein anderes Kind 500 Jahre später auf das Glas und verletzt sich ebenso. Welches Szenario ist schlimmer? 

Longtermism beginnt mit der Einsicht, dass beide Szenarien gleich schlecht sind: Warum sollten uns die Auswirkungen unseres Handelns weniger wichtig sein, nur weil sie weiter in der Zukunft liegen?

Es ist ganz normal, sich um künftige Generationen zu sorgen: Wir alle wünschen uns, dass es unseren Kindern und Enkelkindern gut geht, noch ehe sie zur Welt kommen. Wie das Beispiel oben zeigt, sollten wir dabei allerdings vielleicht nicht nur an unsere Kinder und Enkelkinder denken, sondern alle zukünftigen Menschen mit in ethische Erwägungen einbeziehen.

Doch was geschieht, wenn wir uns dabei nicht mehr nur auf die nächsten paar Generationen beschränken? Wenn wir bedenken, wie viele Generationen es nach unserer noch geben könnte, zeigt sich eine ungeheure Verantwortung: Unser Handeln könnte das Leben von weit mehr Menschen beeinflussen als gemeinhin erwartet.

Einfach gesagt: Die Menschheit könnte es noch sehr, sehr lange geben. Die Lebensdauer anderer Arten zeigt, dass wir noch Hunderttausende von Jahren vor uns haben könnten, und unser Planet wird — wenn wir ihn nicht vorzeitig zerstören — noch Hunderte von Millionen Jahren bewohnbar sein. Wäre die Geschichte der Menschheit ein Roman, wären wir vielleicht noch auf der allerersten Seite.

Um das zu veranschaulichen, empfehlen wir Max Rosers Text Unsere Zukunft könnte riesig sein: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschheit aus der Perspektive des Longtermism.

Das ist nicht nur von akademischem Interesse. Wenn es wirklich noch so viele Menschen geben kann, tragen wir als Generation eine ungeheure Verantwortung. Dazu kommt, dass vieles darauf hindeutet, dass die Zeit, in der wir leben, vielleicht besonders starken Einfluss auf die ferne Zukunft haben wird: Wir erleben Wandel, Wachstum und technologischen Fortschritt in einem noch nie da gewesenen Tempo. 

Einerseits könnte dies eine Zeit der Chancen sein — zum Beispiel indem wir sicherstellen, dass die Werte, die den Technologien innewohnen, die wir in diesem Jahrhundert entwickeln, allen zugutekommen. Und das bis weit in die Zukunft. 

Andererseits könnten wir aber auch eine „Zeit der Gefahren“ durchleben — ein Zeitfenster, in dem wir Katastrophen herbeiführen könnten, die das Potential der Menschheit dauerhaft schädigen könnten. Zum Glück sieht es so aus, als gäbe es heute Maßnahmen, die diese Gefahren noch abwenden könnten. Dazu später mehr.

Die meisten Leute stimmen zu, dass zukünftige Menschen, abstrakt betrachtet, wichtig sind. Aber gerade der Punkt, dass unser heutiges Handeln ihr Leben entscheidend beeinflussen könnte, ist vielen nicht bewusst und könnte bedeuten, dass die Zukunft positiv zu beeinflussen eine der wichtigsten moralischen Prioritäten unserer Zeit sein sollte. Das ist die Idee, die im Begriff „Longtermism“ (engl.: „long“: weit, lang; “term”: Zeit, Zeitspanne) steckt.

Diese Einführung soll die Beweggründe für den Longtermism näher erläutern: dass zukünftige Menschen moralisch wichtig sind, dass es eine enorme Anzahl von ihnen geben könnte und dass wir heute etwas tun können, um dafür zu sorgen, dass ihr Leben gut verläuft.

Zukünftige Menschen sind wichtig

Tausende, vielleicht Millionen von Generationen könnten der unseren folgen. Aber sollten sie uns etwas bedeuten?

Nehmen wir an, eine alte Freundin durchlebt eine schwere Zeit und möchte mit Dir telefonieren. Soweit Du weißt, wohnt sie nicht weit weg. Nun erzählt sie Dir aber, dass sie in ein fernes Land gezogen ist. Würdest Du ihr weniger helfen wollen, nachdem Du erfährst, dass sie räumlich weit von Dir entfernt ist? (Nein, natürlich nicht.)

Die meisten würden zustimmen, dass die räumliche Entfernung eines Menschen von uns keinen Einfluss darauf hat, wie wichtig sein Leben ist. Solange es genauso einfach ist, ihm zu helfen, sind die Bedürfnisse eines Menschen nicht weniger wichtig, nur weil er weiter von uns entfernt lebt.

Wenn Menschen unabhängig von ihrem Geburtsort gleich wichtig sind, sollten sie dann nicht auch unabhängig von ihrem Geburtsdatum gleich wichtig sein?

Sicherlich ist der Umstand, dass wir früher und nicht später geboren sind, kein Grund, dass wir wichtiger sind als die Menschen nach uns. Aus der Sicht unserer Vorfahren waren wir einst zukünftige Menschen und viele Generationen lagen zwischen uns und ihnen. Es wäre abwegig zu behaupten, dass unser Leben weniger wichtig ist, nur weil wir später geboren wurden: Unsere Freuden und Leiden sind genauso real und wichtig wie jene der Generationen vor uns. 

Menschen, die in einer fernen Zukunft leben, werden das Gleiche empfinden, wenn sie den Wert ihres Lebens mit dem von heute lebenden Menschen vergleichen.

Natürlich kann es Gründe geben, das Leben von Menschen, die einem zeitlich und räumlich nahe stehen, stärker zu gewichten — vielleicht weil sie enge Freunde oder Familienangehörige sind oder weil es einem aufgrund ihrer Nähe leichter fällt, ihr Leben zu verbessern. Aber die bloße Tatsache ihrer räumlichen oder zeitlichen Nähe ist niemals von moralischer Bedeutung. Das Beispiel des Vergrabens von Glas in einem Wald, das erstmals von dem verstorbenen Philosophen Derek Parfit beschrieben wurde, hilft, dies zu veranschaulichen.

Unser Potential ist enorm

Wenn jemand das Leben eines Kindes rettet, tut er damit nicht nur dem Kind selbst etwas Gutes, sondern rettet auch dessen Potential. Und selbst wenn es nicht um Leben und Tod geht, bedauern wir oft, dass manche Menschen ihr Potenzial nicht voll ausschöpfen können. Das Kind mag eigentlich das Potential haben, große Durchbrüche in den Naturwissenschaften zu erreichen, ein großes Kunstwerk erschaffen, eine wichtige Politikerin werden oder andere große Taten zu vollbringen. Es kann aber aus verschiedensten Gründen davon abgehalten werden, wie etwa Diskriminierung, Geldsorgen oder ein Mangel an Zuspruch. Je größer das Potenzial eines Menschen ist, desto wichtiger scheint es, es zu bewahren und alles in unserer Macht Stehende zu tun, um seine Verwirklichung zu gewährleisten — und desto größer ist der Verlust, wenn dies nicht geschieht.

Ähnlich wie aus dem Kind einmal eine große Wissenschaftlerin werden kann, hat auch die Menschheit ein Potential — nämlich die Möglichkeit, in der Zukunft große Taten zu vollbringen. Und wenn nach uns noch viele tausend Generationen kommen könnten, dann könnte dieses Potential wahrhaft enorm sein. Doch ähnlich wie bei einem Kind ist es schwierig, sich genau auszumalen, worin dieses Potential besteht. Sicher ist nur, dass wir sicherstellen sollten, dass wir ihm die größtmögliche Chance geben, es auszuschöpfen.

Wie viele Menschen könnten also in der Zukunft leben? Und wie gut (oder schlecht) könnten ihre Leben sein? Natürlich können wir keine genauen Schätzungen vornehmen, aber wir können nach Hinweisen suchen. Wenn wir uns mit dem Thema etwas länger beschäftigen, sieht es tatsächlich so aus, dass die große Mehrheit der Menschen vielleicht noch gar nicht geboren ist.

Zunächst einmal überlebt eine typische Säugetierart im Durchschnitt etwa eine Million Jahre. Die menschliche Spezies, Homo sapiens, hat bisher etwa 300.000 Jahre überlebt. Wenn unsere Spezies also ungefähr so lange leben wird wie die meisten Säugetiere, können wir davon ausgehen, dass uns noch mindestens 200.000 Jahre vergönnt sind — fast 1.000 künftige Generationen. Natürlich ist die Menschheit keine typische Säugetierart: nicht zuletzt deshalb, weil wir über die technologischen Mittel verfügen, unser eigenes Aussterben zu verhindern und uns von Bedrohungen zu erholen. Wir könnten also noch deutlich länger leben als die meisten anderen Säugetiere.

Blicken wir mal auf die Zukunft der Erde. Unser Planet wird wahrscheinlich noch für mehrere Hundert Millionen Jahre bewohnbar bleiben (bevor die heißer werdende Sonne alles irdische Leben auslöscht). Wenn die Menschheit nur 1 % dieser Zeit überleben würde, gäbe es noch etwa eine halbe Million Generationen, die nach uns kommen. Wenn man davon ausgeht, dass pro Jahrhundert ähnlich viele Menschen leben wie in der jüngeren Vergangenheit, ergibt das mindestens eine Milliarde Milliarden künftiger Menschenleben — das Zehntausendfache der Zahl der Menschen, die bisher gelebt haben.

Aber wird die Menschheit dort stehen bleiben? Nur 66 Jahre liegen zwischen dem ersten erfolgreichen Flugzeug und dem ersten Spaziergang eines Menschen auf dem Mond. Man stelle sich vor, welche Fortschritte wir in der Raumfahrttechnologie in Hundert oder gar Tausend Jahren machen können. Angesichts dessen, was wir bereits wissen, scheint es durchaus möglich zu sein, dass die Menschheit irgendwann über die Erde hinauswächst. Wenn wir uns dazu entschließen, über die Grenzen unseres Planeten hinweg zu siedeln, könnte der Nachthimmel eines Tages voll von Tausenden anderer Sterne sein, die Menschen ihr Zuhause nennen.

Das mag zu sehr nach Science-Fiction klingen oder zu wenig fundiert sein. Aber niemand hat eine klare Vorstellung davon, wie die Zukunft genau aussehen wird. Was zählt, ist, dass die menschliche Zukunft in Dauer und Ausmaß außerordentlich groß sein könnte.

Das Ausmaß der Zukunft kann schwer zu begreifen sein — sobald die Zahlen groß genug sind, klingen sie alle gleich riesig. Mit Blick darauf führte der Physiker James Jeans folgende Metapher ein:

Man stelle sich eine Briefmarke auf einer einzelnen Münze vor. Wenn die Dicke der Münze und der Briefmarke zusammengenommen unsere bisherige Lebenszeit als Spezies darstellt, dann entspricht die Dicke der Briefmarke allein der Dauer der aufgezeichneten menschlichen Zivilisation. Jetzt stelle man sich vor, man legt die Münze auf einen 20 Meter hohen Obelisken. Wenn die Briefmarke die gesamte Geschichte der menschlichen Zivilisation repräsentiert, steht der Obelisk für das Alter der Erde. Nun können wir die Zukunft betrachten. Ein 5 Meter hoher Baum, der auf dem Obelisken steht, repräsentiert die bewohnbare Zukunft der Erde. Und hinter diesem Arrangement steht die Höhe des Matterhorns für die bewohnbare Zukunft des Universums.

Allerdings ist das Überleben der Menschheit über diese riesigen Zeiträume hinweg nur dann wünschenswert, wenn das Leben zukünftiger Menschen auch lebenswert ist. Erfreulicherweise gibt es gute Gründe für die Annahme, dass das durchaus der Fall sein wird. Wir haben bereits atemberaubende Fortschritte gemacht: Der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, ist von rund 90 % im Jahr 1820 auf weniger als 10 % im Jahr 2015 gesunken (und auch die absoluten Zahlen sind rückläufig). Im gleichen Zeitraum sank die Kindersterblichkeit von über 40 % auf unter 5 % und die Zahl der Menschen, die in einer Demokratie leben, stieg von weniger als 1% auf eine weltweite Mehrheit. Auch weitere Fortschritte sind möglich. Wir dürfen hoffen, dass weitere wissenschaftliche und medizinische Durchbrüche das Leben von Menschen auch in Zukunft verbessern werden.

Leider hat die Welt noch einen weiten Weg vor sich, bis sie drängende heutige Probleme wie extreme Armut, Ungerechtigkeit, Tierleid und die  Zerstörung durch den Klimawandel bewältigt hat. Das Aufzeigen der Möglichkeiten für eine positive Zukunft sollte nicht bedeuten, dass wir die heutigen Probleme ignorieren. Vielleicht gibt uns der Blick in die Zukunft sogar mehr Motivation, an ihnen zu arbeiten, denn wenn die Trends der Vergangenheit anhalten, könnten wir diese Probleme bald für immer besiegt haben.

Wenn wir das schaffen, könnte unsere Zukunft wirklich außergewöhnlich sein. Allerdings ist das nicht garantiert und wir könnten genauso eines Tages in einer viel schlechteren Welt leben: vielleicht gezeichnet durch Stagnation oder Rückschritt, eine stabile Weltdiktatur oder anhaltende globale Kriege. 

Doch das allein ist kein Grund, den Schutz der langfristigen Zukunft aufzugeben. Die Erkenntnis, dass die Zukunft dystopisch sein könnte, sollte die Möglichkeit, sie zu verbessern, noch bedeutender erscheinen lassen — das Verhindern künftiger Missstände ist gewiss ebenso wichtig wie eine besonders gute Zukunft wahrscheinlicher zu machen.

Wir wissen nicht genau, wie die Zukunft der Menschheit aussehen wird. Wichtig ist aber, dass die Zukunft sowohl außerordentlich wertvoll als auch erschreckend dystopisch sein könnte. Sollten wir tatsächlich die Gelegenheit haben, diese Zukunft mehr in Richtung einer Welt, in der es den Menschen besser als heute geht, zu lenken, könnte das eine sehr große Tat sein. Nicht zuletzt, weil die Anzahl der potentiellen Menschen in der Zukunft so riesig ist.

 

Unser Handeln könnte auch die ferne Zukunft beeinflussen

Gibt es Dinge, die wir jetzt tun könnten, um die Zukunft auf lange Sicht zu verbessern und zu schützen? Für die vielen Generationen vor uns mag die Antwort tatsächlich „Nein“ gelautet haben. Doch es gibt gut Gründe, dass das für unsere Generation anders aussieht:

Ein klares Beispiel ist der Klimawandel. Wir wissen heute ohne jeden Zweifel, dass menschliche Aktivitäten das Klima der Erde stören und der Klimawandel verheerende Auswirkungen haben wird. Wir wissen auch, dass einige dieser Auswirkungen sehr lange anhalten könnten, da Kohlendioxid über Zehntausende von Jahren in unserer Atmosphäre bleiben kann. Aber wir haben es in der Hand, wie viel Schaden wir anrichten, indem wir z. B. Anstrengungen zur Entwicklung umweltfreundlicher Technologien unternehmen, mehr kohlenstofffreie Energiequellen nutzen und die Preise für Kohlenstoffemissionen an den tatsächlichen sozialen Kosten ausrichten, können wir aktiv gegen die Klimakrise kämpfen. Aus diesen Gründen haben Longtermisten gute Gründe, über den Klimawandel besorgt zu sein, und viele arbeiten aktiv an Klimafragen. Die Abschwächung der Auswirkungen des Klimawandels ist ein Musterbeispiel für die positive Beeinflussung der langfristigen Zukunft, aber sie ist nicht das einzige Beispiel.

Einige der heute lebenden Menschen waren gerade Kinder, als die Menschheit zum ersten Mal erfuhr, wie sie sich selbst zerstören könnte. Im Juli 1945 wurde die erste Atomwaffe auf der Trinity-Site in New Mexico gezündet.

Über die unmittelbaren Verwüstungen hinaus könnte ein groß angelegter Atomkrieg einen schweren und lang anhaltenden „nuklearen Winter“ auslösen, der durch weit verbreitete Ernteausfälle eine große Zahl von Opfern auf der ganzen Welt zur Folge haben könnte. Doch seit dem Trinity-Test haben sich die Atomwaffen zu über Zehntausend vermehrt, viele sind heute noch in höchster Alarmbereitschaft. 

Dies deutet auf die Möglichkeit einer existenziellen Katastrophe hin — ein Ereignis, das unser Potential dauerhaft zerstört, indem es beispielsweise die Auslöschung der Menschheit verursacht. Abgesehen von der offensichtlichen Tatsache, dass eine existenzielle Katastrophe unermessliche Schäden für bereits existierende Menschen verursachen könnte, schützt man mit der Arbeit an nuklearer Abrüstung auch die Existenz der vielen Generationen nach uns und somit das Potential der Menschheit insgesamt.

Doch leider scheinen Atomwaffen nicht die einzige mögliche Ursache einer existenziellen Katastrophe zu sein. Betrachten wir Biotechnologie. Wir haben gesehen, dass Pandemien wie Covid-19 verheerende Auswirkungen haben können. Aber mit moderner Biotechnologie wird es bald möglich sein, Krankheitserreger so zu manipulieren, dass sie noch viel tödlicher und übertragbarer sind als natürlich vorkommende Erreger. Sie könnten damit nicht nur Millionen, sondern potenziell Milliarden von Menschenleben bedrohen. Und die Hürden für das Verursachen einer Pandemie werden in den kommenden Jahrzehnten wahrscheinlich immer weiter sinken: das erste Projekt zur Sequenzierung des gesamten menschlichen Genoms dauerte rund 15 Jahre und kostete eine halbe Milliarde Dollar (im Jahr 2003). Heute kann ein komplettes Genom in weniger als einer Stunde sequenziert werden, und das für unter 1.000 Euro. Und obwohl die DNA-Synthese immer noch teurer ist, ist ihr Preis bereits um mehr als das 1.000-fache gesunken.

Zweitens: Künstliche Intelligenz (KI). Fortschrittliche KI könnte uns bei der Lösung vieler Probleme helfen. Doch führende Expert:innen für KI, wie Stuart Russell, versuchen zunehmend vor den Gefahren zu warnen, die in diesem Zusammenhang entstehen könnten.

Erstens scheint es durchaus plausibel zu sein, dass wir entweder zu unseren Lebzeiten oder zu Lebzeiten unserer Kinder Künstliche Intelligenz entwickeln könnten, die uns in vielen Bereichen überflügelt (so, wie es in einigen Bereichen heute schon der Fall ist). Dies könnte viele Aspekte unseres Lebens radikal verändern. Man bedenke hier als Analogie, dass Menschen praktisch die volle Kontrolle über andere Primaten haben: Wenn wir wollen, können wir sie einfangen, ihren Lebensraum zerstören oder sie in Zoos zur Schau stellen. Der Grund dafür ist nicht etwa, dass wir ihnen kräftemäßig voraus waren, sondern vor allem aufgrund unserer Intelligenz. Können wir sicher sein, dass alles gut geht, wenn wir Maschinen schaffen, die uns so sehen wie wir andere Primaten?  KI-Expert:innen befürchten daher auch, dass leistungsstarke KI-Systeme am Ende die falschen Werte verinnerlichen und damit eine existenzielle Bedrohung darstellen könnten. Die Entwicklung sicherer KI-Systeme, die mit unseren Werten in Einklang stehen, ist ein schwieriges Problem. Wenn wir es nicht lösen, könnten wir langfristig die Kontrolle über unsere Zukunft verlieren. Das Verhindern von Gefahren, die von mächtigen KI-Systemen ausgehen, könnte daher eine der wichtigsten Herausforderungen in diesem Jahrhundert sein.

Wir haben die Beispiele Atomkrieg, künstlich erzeugte Pandemien und unkontrollierte KI nicht deswegen aufgezählt, weil sie zwangsläufig die größten Risiken für das langfristige Potenzial der Menschheit darstellen, sondern weil sie einige allgemeine Punkte über existenzielle Risiken veranschaulichen. Bis vor wenigen Jahrzehnten war fast niemand in der Lage, sich diese Risiken überhaupt vorzustellen.

Da wir weiterhin immer leistungsfähigere Technologien erfinden, wird sich dieser Trend vielleicht fortsetzen. Dieses Jahrhundert könnte eine Zeit ungewöhnlicher Verwundbarkeit für unsere stark vernetzte globale Gesellschaft sein.

Der Oxford-Philosoph Toby Ord beschreibt die moralische Bedeutung von existenziellen Risiken in seinem Buch The Precipice:

Wenn ich an die Millionen Generationen denke, die noch kommen könnten, wird mir klar, wie wichtig es ist, die Zukunft der Menschheit zu schützen. Das Risiko einzugehen, diese Zukunft um eines Vorteils willen zu zerstören, der nur auf die Gegenwart beschränkt ist, erscheint mir zutiefst engstirnig und gefährlich kurzsichtig. Eine solche Vernachlässigung privilegiert einen winzigen Ausschnitt unserer Geschichte gegenüber dem großen Ganzen; sie privilegiert eine winzige Minderheit von Menschen gegenüber der überwältigenden Mehrheit, die noch geboren werden soll; sie privilegiert dieses eine Jahrhundert gegenüber den Millionen oder vielleicht Milliarden, die noch kommen werden.

Neben der Vermeidung existenzieller Risiken können wir die langfristige Zukunft auch auf andere Weise positiv beeinflussen. So könnten wir uns etwa um eine Reform unserer politischen Institutionen bemühen, um die Interessen zukünftiger Generationen zu vertreten: Menschen, die mit den Auswirkungen heutiger politischer Entscheidungen leben müssen, aber keine Stimme haben, um sie zu beeinflussen. Dies könnte in Form von nationalen Ausschüssen und Ämtern, neuen Abstimmungsmethoden oder internationalen Frameworks und Gremien geschehen. In dieser Hinsicht gibt es gute Nachrichten: Der Generalsekretär der Vereinten Nationen kündigte kürzlich eine Agenda an, welche die Durchführung neuer UN-Projekte zum Schutz künftiger Generationen vorsieht.

Wir befinden uns wahrscheinlich gerade in einer Zeit, in der wir großen Einfluss auf die Werte haben, die schließlich von vielen nachfolgenden Generationen vertreten werden. Die Geschichte zeigt, dass Zeiten des raschen Wandels oft Zeiten sind, in denen wichtige Entscheidungen über politische oder moralische Werte getroffen werden, die sich dann über lange Zeiträume hinweg verfestigen. Und wir leben in einer Zeit des raschen Wandels, nicht nur wegen des oben beschriebenen technologischen Fortschritts, sondern auch, weil die Welt kulturell und politisch zunehmend globalisiert wird und da wir in einer Periode schnellen Wirtschaftswachstums leben, das völlig verrückt aussieht, wenn man es im Kontext der Menschheitsgeschichte sieht.

Wenn schlechte oder undemokratische Werte bald für eine sehr lange Zeit bestimmt werden und wir es nicht schaffen, dies zu verhindern, dann haben wir möglicherweise nachfolgende Generationen im Stich gelassen. Dies deutet auf eine weitere Möglichkeit hin, die langfristige Zukunft positiv zu beeinflussen: indem man die Wahrscheinlichkeit verringert, dass eine einzige Gruppe moralischer, kultureller oder politischer Werte vorzeitig die Oberhand gewinnt, bevor jede Gruppe und jede Perspektive gehört werden kann.

Was bedeutet das alles?

Viele Menschen würden zustimmen, dass künftige Generationen es genau so wie die jetzt lebende verdienen, in ethische Entscheidungen mit einbezogen zu werden. Das mag erstmal leicht zu akzeptieren sein, vor allem wenn unklar ist, was das konkret bedeutet. Und als erste Reaktion ist es auch ein guter Ansatz, skeptisch zu sein, dass unser Handeln wirklich über mehrere Generationen hinaus Wirkungen haben wird. 

Doch wie wir gesehen haben, leben wir an einem besonderen Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit und das könnte bedeuten, dass wir tatsächlich jetzt etwas tun können, um die langfristige Zukunft zu beeinflussen — oder sogar bestimmen, ob künftige Generationen überhaupt noch leben werden.

Halten wir kurz einen Moment inne, um uns die Bedeutung davon wirklich bewusst zu machen: Unsere heutigen Entscheidungen könnten sich über Tausende Jahre auf Milliarden von Menschen auswirken. Das ist eine ungeheure Verantwortung, die wir als Generation haben.

Konkret könnte dies bedeuten, dass wir viel mehr Arbeit in die Entwicklung besserer Gegenmaßnahmen für künftige Pandemien stecken sollten, wie etwa Systeme zur frühzeitigen Erkennung neuartiger Krankheitserreger. Es könnte bedeuten, wir sollten Lobbyarbeit für politische Institutionen leisten, die künftige Generationen schützen, oder Anträge für den Zukunftsgipfel 2023 einreichen. Oder es könnte bedeuten, dass wir intensiver in den Bereichen Wirtschaft, Geschichte, Recht oder Philosophie forschen sollten, um herauszufinden, wie groß unser Einfluss auf die Zukunft wirklich ist und wo genau wir am besten ansetzen können, um sie zu verbessern. Konkret sollten wir wahrscheinlich auch viel mehr Zeit investieren, um sicherzustellen, dass neuartige Technologien wie KI wirklich sicher sind und wir auf die Auswirkungen, die sie auf unsere Gesellschaft haben könnten, vorbereitet sind.

Zusammenfassung

Es ist verständlich, wenn diese Ideen erstmal sehr seltsam klingen. Man muss auch nicht jeden Gedanken hier überzeugend finden, um einige Aspekte von Longtermism wertvoll zu finden. Und Longtermism ist nicht eine einzige enge Sichtweise darauf, was genau wir priorisieren sollten und warum. Vielmehr handelt es sich um eine breite Perspektive, die verschiedene Blickwinkel miteinander verbinden kann und soll.

Wir sollten diese Ideen jedoch auf keinen Fall außer Acht lassen, nur weil sie etwas fremdartig klingen: Ethische Ideen, die einst avantgardistisch schienen, wie die Ideen, Frauen das Wahlrecht zu geben oder Tiere human zu behandeln, sind heute zum Glück in vielen Köpfen angekommen. 

Die langfristige Zukunft könnte sehr seltsam sein. Sie könnte viel größer und länger sein, als alles, was wir uns vorstellen können. Sie könnte aber auch sehr bald tragisch enden. Nur eins ist sicher: sie wird sehr wahrscheinlich völlig anders sein als die Welt, in der wir heute leben.

Wir wissen nicht genau, wie wir am besten sicherstellen können, dass die Zukunft gut verläuft. Aber es scheint in Anbetracht der Ereignisse um uns herum ziemlich engstirnig zu sein, zu behaupten, dass wir heute nichts tun können, um den Menschen in der Zukunft zu helfen.

Longtermism bedeutet daher, dass wir angesichts dieser Ungewissheit nicht aufgeben, sondern stattdessen versuchen sollten, besser zu verstehen, was das eigentlich alles bedeutet — denn unsere Entscheidungen in diesem Jahrhundert könnten bestimmen, in welcher Zukunft wir enden. Der Zeitpunkt, an dem wir uns in der Geschichte befinden, legt nahe, dass dieses Projekt eine der wichtigsten Prioritäten unserer Zeit sein könnte. Und es gibt noch viel mehr darüber zu lernen.

Erfahre mehr

Die folgenden Texte gehen zu einigen der genannten Themen in mehr Detail:

  • Unsere Zukunft könnte riesig sein: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschheit aus der Perspektive des Longtermism
  • Häufige Fragen zu Longtermism
  • Wie man eine durch KI verursachte Katastrophe verhindert
  • Die Gefahren katastrophaler Pandemien und wie wir sie verhindern können
  • Die Forschung zu globalen Prioritäten
  • Ist der Klimawandel das größte Problem der Welt? Und was können wir gegen ihn tun?