Effektiver Altruismus: ArtikelMarch 02, 202300:12:018.28 MB

Vier Gedanken, denen Du bereits zustimmst

von Sam Deere

In diesem Artikel erläutert Sam Deere seine Auffassung von Effektiven Altruismus als einem Weg, den Werten, die uns ohnehin schon leiten, besser gerecht zu werden.

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Dies ist ein Linkpost für https://www.givingwhatwecan.org/blog/four-things-you-already-agree-with-effective-altruism. Die verlinkten Websites sind nicht durchweg identisch mit denen im Original, sondern wurden teilweise durch passende Links zu ähnlichen deutschsprachigen Links ergänzt oder ersetzt.

Hier sind vier Gedanken, denen Du wahrscheinlich bereits zustimmst. Drei handeln von Werten und einer ist eine Beobachtung über die Welt. Einzeln betrachtet erscheinen sie  nahezu banal oder offensichtlich. Aber zusammengenommen haben diese Ideen tiefgreifende Auswirkungen darauf, wie wir über gute Taten in der Welt denken.

Die vier Gedanken lauten wie folgt:

  1. Es ist wichtig, anderen zu helfen — wenn Menschen in Not sind und wir ihnen helfen können, dann glauben wir, dass wir es auch tun sollten. In gewissen Fällen sehen wir es sogar als unsere moralische Pflicht an: Die meisten Menschen sind der Meinung, Millionäre sollten etwas von ihrem Reichtum zurückgeben. Doch es mag einen überraschen: Diejenigen von uns, deren Gehalt im oder über dem Durchschnitt eines reichen Landes liegt, gehören weltweit typischerweise zu den reichsten 5 %1 — vielleicht haben also auch wir die Möglichkeiten, etwas zurückzugeben.
  2. Menschen2 haben den gleichen Wert — jede Person hat das gleiche Anrecht darauf, glücklich, gesund, erfüllt und frei zu sein, egal wie ihre Lebensumstände aussehen. Alle Menschen sind von Bedeutung, egal wo sie leben und wie reich sie sind, ungeachtet ihrer Ethnie, ihres Alters, Geschlechts, ihrer Fähigkeiten oder religiösen Ansichten, etc.
  3. Mehr zu helfen ist besser als weniger zu helfen — wenn uns die Gegebenheiten eine Wahl lassen, sollten wir mehr Leben retten, den Menschen helfen, länger zu leben, und mehr Menschen glücklicher machen. Stell Dir vor, zwanzig kranke Menschen würden im Krankenhaus sterben, wenn Du ihnen keine Medizin gibst. Du hast genug Medizin für jeden und keinen Grund, etwas für später aufzubewahren: Würde sich irgendjemand dafür entscheiden, willkürlich nur einige der Menschen zu retten, wenn es genauso einfach wäre, alle zu retten?
  4. Unsere Ressourcen sind begrenzt — selbst Millionäre haben nicht unendlich viel Geld, das sie ausgeben können. Das gleiche gilt für unsere Zeit — der Tag scheint nie genug Stunden zu haben. Zeit oder Geld für eine unserer Optionen zu verwenden, ist eine implizite Entscheidung, diese Zeit und dieses Geld nicht für andere Optionen zu verwenden (unabhängig davon, ob wir über diese Alternativen nachdenken oder nicht).

Ich glaube, dass diese vier Gedanken ziemlich unumstritten sind. Es erscheint mir recht intuitiv, dass wir Menschen in Not helfen sollten, wenn wir können; dass wir nicht willkürlich einige Gruppen anderen vorziehen sollten; dass wir lieber mehr Menschen helfen sollten, wenn sich die Chance dazu bietet; und dass unser Geld und unsere Zeit nicht unbegrenzt sind.

Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen — ich glaube, es wäre uns ziemlich unangenehm, die jeweils gegenteilige Position zu verteidigen, sollten wir mit jemandem darüber sprechen. Konkret könnte ein solches Plädoyer folgendermaßen klingen:

  1. Anderen zu helfen ist nicht moralisch verpflichtend, wichtig oder überhaupt gut.
  2. Es ist in Ordnung, den Menschen eine unterschiedlich starke Bedeutung zuzuschreiben, auf der Grundlage von willkürlichen Unterschieden wie Ethnie, Geschlecht, Fähigkeiten etc.
  3. Es ist egal, wenn manche Menschen sterben, auch wenn wir sie ohne zusätzliche Kosten retten könnten.
  4. Wir verfügen über unbegrenzte Ressourcen.

Siehst Du, was ich meine?

Wir haben nicht unendlich viel Geld. Daher stehen wir immer vor der Entscheidung, welchen guten Zweck wir unterstützen sollten.

Wenn wir uns nun einig sind, dass diese vier Gedanken wichtige Werte widerspiegeln — und ich glaube, das tun sie — dann hat das tiefgreifende Auswirkungen darauf, wie wir über gute Taten nachdenken. Es offenbart Spannungen und Widersprüche zwischen diesen offensichtlichen Prämissen und weit verbreiteten Ansichten darüber, was es heißt, Gutes zu tun.

Diesen Werten treu zu bleiben erfordert, dass wir uns der Frage stellen, wie wir mit unseren begrenzten Ressourcen den meisten Menschen helfen können.

Der Umstand, dass es Bereiche gibt, in denen wir mit einem geringen Geldbetrag enorm viel Gutes bewirken können, verleiht dieser Denkweise zusätzliche Bedeutung. Tatsächlich sind die besten Optionen um Längen besser als der Durchschnitt — manchmal sogar hundertfach besser. Wir reden hier darüber, für das gleiche Geld und den gleichen Zeitaufwand, hundert Menschen zu helfen, anstelle von nur einem.

Stell Dir vor, Du schreibst alle gemeinnützigen Organisationen auf kleine Zettel, die du in einen Topf steckst. Nun schließt du die Augen, rührst einmal kräftig um und ziehst einen der Zettel hervor. Aufgrund der ungleichen Verteilung von Wirksamkeit im gemeinnützigen Sektor, ist es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass das Los auf eine besonders effektive Organisation gefallen ist. (Und seien wir ehrlich, die meisten wohltätigen Zwecke, die wir unterstützen, wählen wir willkürlich aus oder aus dem zumeist schmalen Katalog, den unser Alltag uns anbietet).

Das ist wichtig, denn wenn wir gedankenlos auswählen, dann ziehen wir entweder nicht alle Menschen gleichermaßen in Betracht (und diskriminieren somit implizit bestimmte Personengruppen), oder wir helfen nicht so vielen Menschen, wie wir könnten (und lassen somit zu, dass Menschen leiden oder sterben, obwohl wir dies eigentlich verhindern könnten).

Anfangs sollten wir jeden guten Zweck — ob Krebsforschung, Klimagerechtigkeit, Tierschutzzentren oder die Ausrottung von leicht zu behandelnden, aber unaussprechbaren Krankheiten an Orten, die wir wahrscheinlich nie besuchen werden — in Erwägung ziehen … Allerdings glauben wir auch, dass es besser ist, mehr Menschen zu helfen und wir wissen, dass wir nicht die Ressourcen haben, jedem zu helfen. Daher sollten wir uns zunächst auf die Projekte konzentrieren, bei denen wir mit unseren endlichen Zeit- und Geldressourcen den meisten Menschen helfen können, nicht nur auf diejenigen, von denen wir zufällig schon gehört haben.

Diesen verschiedenen Projekten neutral zu begegnen, ist ungemein schwer. Die meisten Menschen wissen aus erster Hand, was Verlust bedeutet: Ich habe durch Leukämie zwei Verwandte verloren; habe mit ansehen müssen, wie die Krankheit ihren Körper zerfraß,  die Schmerzmittel ihren Geist vernebelten; habe gemeinsam mit anderen ihren Tod betrauert. Es ist mehr als nachvollziehbar, dass wir angesichts solcher Erfahrungen an Organisationen spenden möchten, die genau das Problem bekämpfen oder die Krankheit heilen wollen, die uns unserer Nächsten beraubt hat. Wir sind empathische Geschöpfe und wollen verhindern, dass andere das gleiche Leid durchleben wie wir, dass ihre Lieben die gleiche Trauer empfinden.

Doch wenn uns daran liegt, Menschen gleich zu behandeln, dann sollte uns auch daran liegen, die Erfahrungen dieser Menschen gleich zu behandeln. Es gibt keinen wirklich guten Grund dafür, dass ich es vorziehen sollte, Menschen vor Leid und Tod durch eine besondere Krankheit zu schützen (zum Beispiel Leukämie), aber nicht vor dem Leid durch Malaria, Tuberkulose, Verkehrsunfälle oder anderem. Wichtig ist, dass Menschen zu früh sterben, Eltern ihre Kinder verlieren, Menschen mit vermeidbaren Schmerzen leben. Sich um Gleichberechtigung zu bemühen bedeutet, jeden Todesfall und jedes Leiden als Tragödie wahrzunehmen, nicht nur diejenigen, die einer bestimmten Krankheit geschuldet sind, die sich — durch grausame Wendungen des Schicksals — in unsere Erinnerung gebrannt haben.

Diese Entscheidungen zu treffen, ist eine immense Herausforderung. Doch es gibt eine ganze Sammlung gedanklicher Werkzeuge, die uns dabei helfen können. Zusammengefasst handelt es sich hierbei um die Denkweise des Effektiven Altruismus. Er entspricht im Grunde dem herkömmlichen Altruismus (insofern es sein Ziel ist, anderen zu helfen) —  das Wort ‚effektiv‘ bedeutet lediglich, dass man sorgfältig darüber nachdenkt, wie die eigenen Handlungen den meisten Menschen helfen oder das meiste Gute bewirken können.

Ich betrachte Effektiven Altruismus als einen Weg, den Werten, die uns ohnehin schon leiten, besser gerecht zu werden.

Diese Denkweise kann überall angewandt werden, wo wir Gutes tun wollen — sei es in unserem Bestreben, uns für politischen Wandel stark zu machen, oder bei der Entscheidung, wohin wir unser Geld spenden oder wie wir unsere Karriere für Veränderung einsetzen möchten.

Die Systematik, mit der im Effektiven Altruismus nach den besten Hilfsmöglichkeiten gesucht wird, erlaubt uns zu navigieren, angesichts der schier unendlichen Menge an Problemen, vor die uns die Welt stellt, und für deren Lösung uns nur begrenzte Mittel zur Verfügung stehen.  

Diese Situation stellt uns vor schwierige Entscheidungen. Doch bedenke: eine Entscheidung fällt so oder so, ob wir darüber nachdenken oder nicht. Und obwohl es vielleicht schwerfällt, nicht an eine Sache zu spenden, die uns sehr wichtig erscheint — sei es aus persönlichen Gründen oder weil die jeweilige Wohltätigkeitsorganisation erfolgreiches Marketing betreibt — solltest Du Dir bewusst machen, dass eine jede Entscheidung für eine Sache, stets ein Nichtunterstützen aller guter (und schlechter) Alternativen bedeutet. 

Sehen wir uns hierzu mal ein konkretes Beispiel an: Durchschnittlich spendet eine Person in Großbritannien im Laufe ihres Arbeitslebens rund  7.600 €.3 Für den gleichen Betrag könnten wir die Verteilung von ca. 1.900 Moskitonetzen4  finanzieren (wodurch ca. 200 Kinder vor einer schweren Malaria-Erkrankung geschützt werden könnten,5 und wahrscheinlich mindestens zwei oder drei Leben gerettet würden). Allerdings geht das Gros der freiwilligen Spenden an medizinische Einrichtungen innerhalb des Vereinigten Königreichs.6 Das dortige staatliche Gesundheitssystem (NHS) ist bereit, für die Sicherung eines gesunden Lebensjahres ca. 28.400 € auszugeben.7 Es ist sehr unwahrscheinlich, dass dieser Betrag von privaten Wohltätigkeitsorganisationen innerhalb des Landes bedeutend unterboten würde. Folglich bewirkt das über eine ganze Karriere gesammelte Spendenvolumen einer britischen Person um ein Vielfaches weniger als es andernorts könnte. Denk daran: nur weil wir nicht über diese Optionen nachdenken, heißt das nicht, dass sie nicht existieren.

Wir laden Dich also dazu ein, Dich eingehend mit diesen Konzepten auseinanderzusetzen — der Bedeutung von Altruismus, Gleichberechtigung, und der Idee, mit unseren knappen Ressourcen so viel Gutes zu tun wie möglich — um herauszufinden, ob sie Dir sinnvoll erscheinen.

Wenn ja, dann reflektiere diese Werte, wenn Du das nächste Mal überlegst, wie Du die Welt zu einem besseren Ort machen kannst. Häufig mag es dieser innerliche Schritt sein, dieses Innehalten, das einer altruistischen Motivation dazu verhilft, viel Gutes in die Welt zu tragen und uns ermöglicht, im Einklang mit unseren tiefsten Überzeugungen zu handeln. 

Hier einige Ressourcen, um mehr über den Effektiven Altruismus zu erfahren:

Einige Handlungsempfehlungen für Dich, die wir für wirklich effektiv halten

  • Spende an eine Wohltätigkeitsorganisation, die aufgrund ihres Wirkungsgrads und ihrer Kosteneffizienz ausgesucht sind — gute Adressen hierfür sind die Empfehlungen von Effektiv Spenden, sowie die Top-Charities von Giving What We Can und GiveWell. Solltest Du Organisationen unterstützen wollen, die sich effektiv dem Tierwohl widmen, dann besuche doch mal Animal Charity Evaluators.
  • Verpflichte Dich, im Laufe Deines Lebens weiter zu spenden — 9.135 Menschen (Stand 2023) haben sich bereits verpflichtet, 10 % ihres Lebenseinkommens an die effektivsten Wohltätigkeitsorganisationen zu spenden, und 798 Menschen haben sich verpflichtet, über einen selbst festgelegten Zeitraum 1 % oder mehr ihres Einkommens zu spenden.
  • Wähle einen Berufszweig, der viel bewegen kann — Erfahre mehr darüber auf  80,000 Hours (auf Englisch).
  • Gründe eine Ortsgruppe oder Diskussionsgruppe in Deiner Stadt oder an Deiner Universität und wecke bei anderen das Interesse, effektiv Gutes zu tun.

1 Die im Rechner voreingestellte Zahl (32.140 US-$ oder 30.350 €) ist das persönliche Durchschnittseinkommen eines über 25-Jährigen in den USA, doch natürlich solltest Du hier Dein eigenes Einkommen, Herkunftsland und Details zu Deinen Lebensumständen eingeben.  Einige hilfreiche generische Werte, die Du zu Vergleichszwecken nutzen kannst, sind 48.600 € — durchschnittliches Bruttoeinstiegsgehalt von Hochschulabsolvent:innen in Deutschland, 61.906 € — durchschnittliches Bruttojahresgehalt von Deutschen mit Masterabschluss (beinhaltet alle Erwerbstätigen).

2 Ich habe in diesem Artikel der Einfachheit halber von ‚Menschen‘ gesprochen, doch wenn Dich das Wohl von Tieren beschäftigt, ersetze diesen Begriff einfach durch ‚Tiere‘ oder ‚fühlende Wesen‘ etc. Die Argumente sind die gleichen.

3 Charities Aid Foundation, UK Giving 2014, S. 12 https://www.cafonline.org/docs/default-source/about-us-publications/caf-ukgiving2014. Errechnet durch die Multiplikation des monatlich durchschnittlich gespendeten Betrags (16 € bzw. £ 14) mit 12 (um die jährlichen Spenden zu erhalten) und dann mit 40 (Anzahl der Jahre, die man durchschnittlich im Erwerbsleben verbringt).

4 Wenn man mit ca. 4,75 € pro Bettnetz rechnet, das von der Against Malaria Foundation ausgegeben wird, was auf die meisten Regionen zutrifft, in denen sie aktiv ist. In einigen Ländern (wie der Demokratischen Republik Kongo) sind die Kosten höher, doch selbst bei 7,50 € pro Bettnetz könnte man noch immer über 1.000 Bettnetze ausgeben.

5 White, MT. “Costs and cost-effectiveness of malaria control interventions …” 2011. https://malariajournal.biomedcentral.com/articles/10.1186/1475-2875-10-337

6 Charities Aid Foundation, UK Giving 2014, S. 14 https://www.cafonline.org/docs/default-source/about-us-publications/caf-ukgiving2014

7 https://www.nice.org.uk/news/blog/carrying-nice-over-the-threshold

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